XII
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Fischer zog den Vorhang beiseite und stellte die Madonna auf einen Stoß dicker Bücher, so ins Licht, daß sie von allen Seiten bestrahlt wurde. Er lächelte. Immer noch nicht verzieh er sich, daß er bisher von ihrer Existenz nichts gewußt hatte. Jahrelang hatte sie also in einer Kirche gestanden, die nur eine Viertelstun- de von seiner Wohnung entfernt lag, und er hatte sie nie ent- deckt. Allerdings war sie in der Sakristei verborgen gewesen, unter Weihrauchfässern, geschmacklosen Monstranzen aus der Rokokozeit und reizlosen Gipsfiguren. Diese kleine Madonna aus dem fünfzehnten Jahrhundert war reizend, ihr Wert in Geld kaum abzuschätzen, und sie zu besitzen, war wunderbar. Er war glücklich, er lächelte leise, und zum ersten Male dachte er, daß wohl doch ein realer religiöser Kern an dieser Madonnenvereh- rung war, die das Volk betrieb: diese seltsam schmelzende süßli- che Anbetung, die ihn bisher immer angewidert hatte, ohne daß er hätte den Grund aussprechen können…
Die Plastik vor ihm, ganz im Licht stehend, mit ihrer kräftigen roten und goldenen Bemalung, war von einer entzückenden Einfachheit des Gefühls: dieses Gesicht war wirklich jungfräu- lich, schön und mütterlich: er hatte es noch nie entdeckt, noch nie gesehen, daß diese drei Eigenschaften zusammenfielen: hier war es eindeutig: jungfräulich, schön und mütterlich und mit einem schmerzhaften Zug, der weder Jungfräulichkeit noch Schönheit noch Mütterlichkeit verzerrte: Schmerz und jene Tri- nität der Eigenschaften, die er aus theologischen Abhandlungen und der lauretanischen Litanei kannte, aber noch nie dargestellt gesehen hatte.
In diesem Augenblick – obwohl er keine Neigung zu über- schwenglichen Gefühlen hatte – erschien sie ihm das schönste von all seinen vielen Kunstschätzen, dieses geschnitzte und bemalte Stück Lindenholz, das kaum so groß war wie ein Lexi-
konband und nun aus dem Schutt der Sakristei herausgezogen
war: die prachtvollen tiefen roten und goldenen Farben etwas
verkratzt. Er ging langsam um den Schreibtisch herum und be- trachtete sie von jeder Seite eingehend: es war kein Fehler an ihr zu entdecken, nirgendwo eine Verkrampfung oder Übertreibung in der Darstellung, in der natürlichen Schönheit der Gestalt, im Mantelwurf, in der Haltung der Arme, der Neigung des Halses; und der seltsam demütige Stolz, mit dem sie den Nacken hielt und den Kopf trug, diesen außergewöhnlich schönen Kopf, der jene paradoxe Trinität ausdrückte, die ihm nun zum ersten Mal nicht paradox erschien. Sogar das Kind auf ihrem Arm gefiel ihm, obwohl er sonst eine Abneigung gegen Darstellungen des Jesuskindes hatte, sie waren meistens mißlungen, zu süßlich oder zu grob – wie ihm auch lebendige Kinder zu süßlich oder zu grob erschienen, kitschig oder plump.
Er trat näher und betrachtete das kaum zeigefingergroße Rind auf dem Arm der Muttergottes näher. Trotz allem mußte er einen leichten Ekel überwinden: insgeheim tadelte er die Künstler, die
so kleinen Statuen auch noch proportionsgerechte Kinder in den
Arm legten – sie erinnerten ihn immer an Embryos.
Er biß sich auf die Lippen, zog hastig seinen Sessel näher und setzte sich: er spürte, daß er blaß geworden war und die Reihe glücklicher und heiterer, fast religiöser Gedanken jäh unterbro- chen war, und wieder erfüllte ihn dieses andere Gefühl: ein Ge- misch aus Langeweile und Ekel. Sein Blick ruhte weiter auf der kleinen Statue, aber er sah sie nicht mehr…
Er schrak zusammen, als es klopfte, nahm die kleine Figur schnell vom Tisch weg und setzte sie auf den oberen Rand des Bücherregals hinter eine Reihe großer Bände, wo sie ganz ver-
deckt wurde…
»Herein«, rief er.
Schon als er die Druckfahnen in der Hand seines Sekretärs sah, kam wieder die Langeweile hoch: eine unendlich sanfte Ver- zweiflung mit einer unendlich sanften Bitternis gemischt.
»Die Korrekturfahnen, Herr Doktor«, sagte der junge Mann,
»für die erste Nummer des Gotteslammes, eben angekommen.« Der junge Mann blickte ihn erwartungsvoll an, ein blasser
schmächtiger Kerl, der devot und intellektuell zugleich aussah,
eine Verbindung, die er sonst liebte, die ihm heute aber wider- wärtig erschien.
»Danke«, sagte er, nahm die rauhen Bogen in Empfang, »es ist gut.«
An dem seltsam gekrümmten Rücken, dem verzogenen Nak-
ken sah er, daß der junge Mann gekränkt war.
Nun ja, dachte er, als der Sekretär hinausgegangen war, diese erste Nummer des Gotteslammes war eine Leistung: Papier- knappheit, Lizenzschwierigkeiten, die verzweifelte Suche nach Autoren und einer leistungsfähigen Druckerei in dieser Stadt, die wie ausgestorben erschien – alles war in sechs Wochen mit der leidenschaftlichen Hilfe des jungen Mannes überwunden worden
dazwischen war noch das verrückte Datum der Kapitulation gefallen, das neue unerwartete politische Schwierigkeiten brach- te. Trotz allem war es gelungen, diese erste Nummer des Gottes- lammes erscheinen zu lassen.
Er nahm die Bogen gelangweilt vor und ließ sie einzeln durch seine Finger gleiten. Nun, das alles würde der Sekretär machen, die Korrektur lesen, den Umbruch anordnen; er legte die Blätter
beiseite und hielt nur das Titelblatt in der Hand: es zeigte eine
schauerlich kitschige Gotteslammvignette, die schon seit fünfzig Jahren den Kopf des Blattes zierte; in allen Bibliotheken und in den Bücherschränken der katholischen Familien konnte man sie sehen: sie quollen aus Mappen, lagen staubbedeckt oben auf Schränken und in Abstellräumen, Millionen Exemplare, die diese Vignette zeigten: eine wahrhaft gräßliche Graphik: ein kurzgeschorenes Lamm mit müdem Gesichtsausdruck und devot gesenktem Schwanz, an dessen Hals ein Wimpel mit einem Kreuz gelehnt war.
»Der hochwürdigste Herr Kardinal bittet Sie, diese kleine Fi- gur als Geschenk entgegenzunehmen, weil es Ihnen gelungen ist, trotz aller Schwierigkeiten, das Gotteslamm nun – eh – wieder auf die Beine zu bringen«, hatte der Domherr zu ihm gesagt,
»wir erwarten von diesem ersten publizistischen Versuch nach dem Krieg einen großen Erfolg…«
Er legte auch das Titelblatt beiseite, und es fiel ihm jetzt erst ein, daß er mit einer kleinen Kostbarkeit bedacht worden war, weil es ihm gelungen war, einige kraftlose Artikel unter dieser Vignette zu vereinen und drucken zu lassen. Aber die Ironie dieser Tatsache machte ihm keinen Spaß. Er war müde, Lange- weile und Verzweiflung schienen sich inniger noch zu ver- schmelzen, ein träger Strom Unendlichkeit, dessen Bitternis nicht ausreichte, ihn reizvoll zu machen…
Das Telephon klingelte. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.
»Krankenhaus der Vinzentinerinnen«, sagte eine Stimme.
»Ja«, sagte er, plötzlich erregt, »was ist?«
»Gut«, sagte die unbekannte Stimme, »Ihrer Tochter geht es gut. Viel besser. Herr Dr. Weiner hat eine Transfusion gemacht, die vollkommen gelungen ist. Bis heute abend wird sich ent- schieden haben, ob die Besserung anhält.«
»Danke, Schwester«, rief er, »danke. Ich werde mir erlauben, heute abend vorzusprechen. Grüßen Sie meine Tochter bitte.«
»Schön. Sie hatten eine Prämie für die Blutspenderin ausge- setzt, darf ich sie zu Ihnen schicken?«
»Gewiß«, rief er, »gewiß, ich freue mich, ihr die kleine Aner- kennung zu überreichen. Sonst noch was?«
»Nein. Bis heute abend also.«
»Auf Wiedersehen«, sagte er und hing ein…
Die kurze Freude war schon vorüber, als er den Hörer auflegte und das leise metallische Knacken der Gabel hörte. Wieder spür- te er es, wie ein großes Gewässer, in dem er bis zum Halse ver-
borgen stand und dessen laue unendliche Oberfläche ihm bis an
den Mund reichte: Langeweile, Ekel und irgendwo ein bißchen Wollust…
Im Kriege hatte es Augenblicke gegeben, in denen das Leben fast schön gewesen war; wenigstens gefährlich und bedroht, täglich bedroht, eine Bedrohung, die um so schöner war, als sie von unfehlbaren Sicherheiten umgeben war: ein starker Bunker,
Geld, Vorräte und die Gewißheit, daß er politisch immer richtig
liegen würde, wie es auch kommen mochte – selbstverständlich war er in der Partei gewesen, hatte sogar manche Konferenz mit den Nazis gehabt – auf ihre Art schienen sie übrigens ›Kerle‹ gewesen zu sein – aber er besaß gleichzeitig ein umfangreiches geheimes Schriftstück des Erzbischofs, daß er auf dessen Wei- sung, fast unter dessen Druck, gleichsam mit einer religiösen Aufgabe in die Partei gegangen war…
Seitdem kein Krieg mehr war, ging alles so glatt, daß es ihn anwiderte: Geld zu verdienen war so leicht, daß ihn jedesmal Spott und Ekel ergriff, wenn er die Bündel aus dem Geldschrank
nahm, sie durchzählte und wieder verschloß. Es wäre lächerlich
gewesen, sich in die Kontrollierbarkeit eines Bankkontos zu begeben: eine halbe Mansarde voll von Kunstgegenständen, die er, weil sie ihm mißfallen hatten, dort abgestellt hatte, brachte ihm mehr Geld ein, als ihm früher durch den Verkauf zweier Gutshöfe zugefallen wäre…
Früher, dachte er, steckte eine Zigarre an und ließ noch einmal die Druckfahnen des Gotteslammes durch seine Finger gleiten, ohne sie zu sehen. Früher hatten ihm eine Menge Dinge Freude
gemacht: Goethe zu lesen, seine Gedanken darüber niederzu-
schreiben, auszufeilen und sie dann gedruckt zu sehen: oder eine religiöse Zeitschrift aufzubauen, sie wachsen zu sehen, auch wenn er sie dann den müden und unfähigen kirchlichen Behör- den gleichsam fertig in den Schoß legen mußte. Nichts mehr interessierte ihn heute…
Er drehte die Zigarre in den Fingern und überließ sich seinen Erinnerungen, er blickte sie an wie Photos eines fremden und langweiligen Lebens; unendliche Öde lösten sie aus: eine ganze Kiste von Bildern, die ihn nichts angingen, während er gezwun- gen war, sie anzusehen: eine Kette unendlich vieler langer Nachmittage schien sich aufzutun, angefüllt mit der Öde eines zu vollen Magens und dem Klavierspiel einer Anfängerin, die dazu verdammt ist, ewig in der Mittelmäßigkeit herumzuklim- pern.
Einzig, sooft ihm seine Frau einfiel, kam der Haß hoch, sta-
chelte ihn auf, machte ihn für Augenblicke warm, nur für Au-
genblicke, denn auch mit ihr empfand er Mitleid, dieser Schön- heit mit dem Profil einer italienischen Fürstin…
Langeweile, Ekel und ein bißchen Wollust: Langeweile, Wi- derwillen und der sanfte Kitzel, den ein Packen Geldscheine in
ihm auslöste – woran er auch denken mochte, immer war die
Langeweile der überwiegende Mischungspartner, sie nahm über- all den größten Raum ein, während ihre Beimischungen: Wol- lust, Überdruß, Ekel, Mitleid, winzig erschienen, erdrückt von ihrer bleiernen Masse…
Für einen Augenblick fiel ihm die Madonna ein, aber zugleich tauchte auch ›Embryo‹ in ihm auf, ein Wort, das alle anderen verscheuchte und stehenblieb: häßlich, weder Langeweile noch Überdruß erregend, sondern Angst; es war ihm immer widerwär- tig gewesen wegen des Ypsilons, das dem O eine unzüchtige Bedeutung zu geben schien: es schien wie ein Geheimwort, einer fremden Sprache entnommen, eingesetzt, um einen ganzen Komplex ebenso geheimnisvoller wie ekelhafter Begriffe auszu- drücken, ein Stenogramm des Grauens, das ihm einfallen und ihn verfolgen würde, sooft er an Madonna denken würde, an irgendeine nur, oder an die Eine: für immer würde Madonna mit Embryo gekoppelt sein, ein schönes Wort mit einem häßlichen, beide einander auslösend wie Spiegelbilder…
Ihm fiel ein, daß er die fünfzehnhundert Mark bereitlegen mußte, und er stand auf. Er schloß den Geldschrank auf, ließ die schwere Tür aufpendeln und griff in die Haufen: zehn Fünfziger, fünfundzwanzig Zwanziger und fünfzig Zehner…
Er ging zum Schreibtisch zurück, legte das Geld in eine Schub- lade, und als er sie zuschloß, fiel ihm auf, daß das Geld roch, im Gegensatz zum Sprichwort: es roch sogar stark, jedesmal spürte er diesen Geruch, wenn er den Geldschrank öffnete: ein süßli- cher schwacher Dunst, süßlich und dreckig, unpersönlich und beziehungsreich, schwach und von einer verblüffenden Ein- dringlichkeit. Wenn er die Tür öffnete, kam ihm eine heftige süßliche Wolke entgegen, süßlicher Dreck, der den Begriff Bor- dell in ihm – auslöste – aber es fiel ihm ein, daß es Blutgeruch
war, der sehr verdünnte, verfeinerte Geruch von Blut…
Er verspürte eine kleine Erleichterung, als ihm Elisabeth ein- fiel: ihr Name, die Erinnerung an sie löste eine seltsame Zärt- lichkeit aus, obwohl er nicht wußte und sich nicht erklären konn- te, wieso, aber es blieb: eine etwas ironische Heiterkeit erfüllte ihn, obwohl er wütend auf sie war, weil sie auch sein letztes Geheimnis entdeckt hatte in dieser spielerischen mühelosen Art, wie sie alles entdeckte…
Jedenfalls erschien ihm die Tatsache originell, daß sie das Ge- setz der Zeit auf den Kopf stellte: anstatt Geld in Sachwerten anzulegen, machte sie Sachwerte zu Geld und verschenkte es: sie verkaufte Familienwerte, zog Geld aus Mietshäusern ein, hob von Konten ab, ließ Bilder und Möbel über den Schwarzmarkt gehen und widmete sich einem neuartigen humanen Sport, in- dem sie Gutscheine für Brot austeilte.
Diese hysterische Manier dünkte ihn lächerlich, zugleich aber imponierend wegen ihrer souveränen Art, die übrigens die Ei- genschaften wirklicher Originalität hatte: sie war starrköpfig, und insgeheim freute er sich auf den Kampf, den sie ihm und dem Alten angesagt hatte – Waffenstillstand, hatte sie gesagt.
Es würde gefährlich werden, wenn es ihr gelänge, den Solda- ten aufzutreiben, der Willis Testament gebracht hatte: man konn- te Willis Leiche ausgraben, seine Identität feststellen, und im gleichen Augenblick, wo sein Tod amtlich beglaubigt wurde, war das Testament rechtskräftig, solange nicht zu beweisen war, daß der Dienststempel oder der Name des Offiziers gefälscht war…
Er schlug mit dem Füllfederhalter gegen den Lampenschirm, um den Sekretär hereinzurufen, und als der devote blasse Bur- sche in der Tür erschien, sagte er freundlich: »Verzeihen Sie, Windeck, ich war eben in Gedanken: Ich freue mich, daß die erste Nummer des Gotteslammes, unsere gemeinsame Arbeit, vorliegt, und glauben Sie nicht, daß ich Ihr Verdienst daran unterschätze. Mögen Sie eine Zigarre?«
Der Sekretär lächelte glücklich, suchte sich aus der vorgehal-
tenen Kiste eine Zigarre heraus und sagte leise: »Danke, Herr Doktor…«
»Nehmen Sie noch eine…« Er nahm noch eine.
Ȇbrigens, gleich kommt eine Frau, die meiner Tochter Blut
gespendet hat – geben Sie ihr auf die Bescheinigung des Kran- kenhauses hin dieses Geld gegen Quittung – fünfzehnhundert Mark…«
»Jawohl«, sagte der Sekretär.
Er sah nicht mehr, daß der Chef die Zigarre aus der Hand legte und den Kopf in die Hände stützte…